Provokation scheint heute dazuzugehören. Sie begegnet uns in Popkultur, Politik und nicht zuletzt auch in der Werbung. Insbesondere Start-ups setzen immer wieder auf den gewissen “Wow”- und “Schock”-Effekt, um aus der Masse herauszustechen. Doch für welche Unternehmen eignet sich eine solche Strategie? Wo liegen die Grenzen? Und was sollten Unternehmen beachten? Ein Überblick.
Die Motive waren heftig: ölverschmierte Tiere, blutgetränkte Kleidung und Aidskranke; alles versehen mit dem schnörkellos daher kommenden Logo, weiße Schrift auf grünem Grund. Anfang der Neunziger Jahre sorgte das italienische Modelabel Benetton mit einer Werbekampagne für Aufsehen, die die Grenzen des guten Geschmacks und dessen, was Marketing darf, auszutesten versuchte. Das Credo: Provokation um jeden Preis, die eigentliche Werbebotschaft trat in den Hintergrund. Produkt? Message? Egal! Hauptsache auffallen.
Damals stoppte der Bundesgerichtshof die Kampagne und untersagte jede weitere Verbreitung der anstößigen Inhalte. Die Begründung der Richter im Urteil vom 6. Juli 1995: “Wer Gefühle des Mitleids in so intensiver Weise wie in den beanstandeten Anzeigen zu kommerziellen Zwecken ausnutzt, handelt wettbewerbswidrig“. Seit dieser Zeit versuchten die Italiener noch mehrmals an ihr provokantes Image anzuknüpfen – mit mal mehr, mal weniger Erfolg.
Dabei, so scheint es, gehört das kommunikative Spiel mit dem Feuer für Marketingverantwortliche längst dazu. “Es ist mittlerweile absolut salonfähig geworden. Sogar so sehr, dass Provokation in einem fast hysterischen Wettkampf um Aufmerksamkeit immer häufiger inflationär eingesetzt wird. Das Internet hat diese Entwicklung befeuert”, stellt Alexander Diehl, Gründer der Berliner Kreativ- und Werbeagentur KKLD, fest.
Start-ups + Provokation = ❤
Gerade junge Unternehmen machen sich diese Art der Kommunikation immer häufiger zu eigen. “Indem Start-ups öffentlichkeitswirksam provozieren, können sie schnell Aufmerksamkeit generieren. Sie genießen auch den Vorteil, dass Konsumenten ihnen schlicht mehr verzeihen als den Etablierten”, so der Werbeexperte.
Das Ziel ist klar: Es geht darum, aus der Masse an Anbietern herauszustechen und sich gegenüber großen Playern am Markt zu positionieren. “Wer das macht was alle machen, der bringt nichts neues in die Welt”, findet Nicolas Lecloux, Gründer und Marketingchef von true fruits. Der Bonner Smoothie-Hersteller ist eine dieser jungen Marken, die gerne provozieren. Die Westfalen sorgten im vergangenen Jahr mit einer Werbekampagne für mediale Aufmerksamkeit, die mit Slogans wie „Oralverzehr – schneller kommst Du nicht zum Samengenuss“ auf sexuelle Anspielungen setzte und damit auch aneckte.
Einige Städte und Gemeinden zensierten die Plakate, der Werberat sah sich genötigt, zu ermitteln und auch im Social Web beschwerten sich Nutzer über die “sexistische Werbung”. Alles mit eingepreist, wenn es nach Lecloux geht: „Everybody’s Darling ist dann eben auch Everybody’s Arschloch. Das haben wir gelernt, man kann nicht Jedem gefallen. Wir haben einen eigenen Humor und wir haben eine eigene Meinung und dazu stehen wir auch”.
Mit ganz ähnlicher Attitüde widmet sich auch das Kondom-Start-up einhorn dem Thema Kommunikation. Die Berliner setzen verstärkt auf soziale Medien und riefen 2015 unter dem Motto #YesWeCum21 zu einer Demo auf dem Pariser Platz im Herzen der Hauptstadt auf, um “für das Recht auf multiple Orgasmen zu demonstrieren”. Eine Reaktion auf eine Abmahnung eines Wettbewerbers, der sich an dem Verpackungsaufdruck “Eine Tüte à sieben Stück entspricht bis zu 21 Orgasmen” störte. Dies suggeriere, so der Vorwurf, dass einhorn-Kondome mehrmals verwendbar wären. Mit der Demonstration schlug das Unternehmen riesige Wellen und landete sogar auf der BILD-Titelseite. “Das war für mich immer noch einer der besten Aktionen, die wir bisher gemacht haben”, so Markus Wörner, Online Marketer bei einhorn, gegenüber The Restless CMO. Doch er gibt auch zu, dass das Alles “im Endeffekt eher aus dem Bauch heraus passierte”.
Die BVG & die Grenzen der Provokation
Viel strukturierter gehen da die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) vor. Das Unternehmen, zuständig für den öffentlichen Personennahverkehr in der Hauptstadt, ist mit seiner selbstironischen, oft provokanten Tonalität, die zusammen mit der Kommunikationsagentur GUD. 2015 als Antwort auf einen Shitstorm entwickelt wurde, ein Beispiel dafür, wie es auch etablierten Unternehmen gelingen kann, mit Kommunikation Ecken und Kanten zu zeigen. Dabei setzt die BVG vor allem in sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram auf eigenwillige Beiträge, nimmt die eigenen Schwächen aufs Korn – wie in einem kürzlich veröffentlichten YouTube-Video – und reagiert nicht zuletzt auch häufig auf aktuelle Geschehnisse mit launischen Kommentaren. Das polarisiert natürlich.
Aktuelles Image-Video der BVG
“Selbstverständlich bedeutet Polarisierung, dass Menschen unterschiedlicher Auffassung sind. Auf der anderen Seite führt Polarisierung aber auch zu einer großen Reichweite und zu einer hohen Aufmerksamkeit”, erklärt BVG-Marketingleiter Frank Büch im The Restless CMO-Interview. Über das Risiko einer solchen Strategie sei man sich im Unternehmen sehr wohl bewusst, allerdings habe man bisher nur gute Erfahrungen gemacht.
Und dennoch gebe es beim Thema Provokation natürlich auch Grenzen, gibt Büch zu: “Was es in einer frechen Kampagne der BVG nie geben darf, ist die Verunglimpfung von Personen und Personengruppen. Alle Kommentare und Aussagen dürfen frech sein, müssen aber trotzdem wertschätzend dargestellt werden. Aussagen zu Politik, Glauben, Religion sollen nicht getroffen werden”. Am Ende gehe es um das Image eines Unternehmens, nicht mehr und nicht weniger.
Das sollten Marken beachten
Doch was müssen Unternehmen beachten, um erfolgreich provozieren zu können? Einen Masterplan gäbe es da laut KKLD-Chef Alexander Diehl nicht. Wichtig sei vor allem, “dass die Provokation etwas mit der Realität einer Marke zu tun hat, sie muss damit verbunden sein”. Alles andere sei vor allem kontextabhängig, denn “Provokation hat immer etwas mit Gesellschaft und Zeitgeist zu tun”. Und beides verändere sich eben ständig.
Gefährlich werden könne übertriebene Provokation laut Diehl weniger für Unternehmen wie die BVG, sondern für Marken, die sich starkem Wettbewerb ausgesetzt sehen: “Schwierig wird es immer dort, wo Konsumenten eine Wahl haben und dann aus Frust zur Konkurrenz wechseln könnten”. Umso wichtiger sei es, die Kommunikation von Anfang an auf die eigene Zielgruppe zuzuschneiden. Und letztlich, davon ist der Werbeexperte überzeugt, könne man mit der Kraft der Bilder, gutem Storytelling und Design mindestens genauso viel Aufmerksamkeit erzeugen: “Vielleicht sogar noch ein wenig nachhaltiger”.