It’s a jungle out there

Lange Zeit war das nackte Überleben unser zentraler Fokus. Angesichts von Seuchen, Hungersnöten und Kriegen war die Menschheit darauf bedacht, Tag für Tag das eigene Überleben zu sichern. Im Laufe der Zeit hat sich das zum Glück geändert. In großen Teilen der Welt zumindest. Dies hat dazu geführt, dass wir unseren Blickwinkel verschoben haben: Vom Haben zum Sein – vom Überleben zum Erleben. Früher war die Landwirtschaft noch das Maß aller Dinge. Fokus: Überleben. Heute ist das Smartphone, beziehungsweise was wir darauf erleben, das Sinnbild für die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft. 

Mit dramatischen Auswirkungen für Marken und für jeden einzelnen von uns: Wir sind überall und jederzeit erreichbar. Unser Freundeskreis vergrößert sich geradezu explosionsartig. Früher haben wir ab und zu eine Postkarte bekommen, heute wird man beinahe stündlich konfrontiert mit den Errungenschaften der über 500 „Freunde oder Follower“. Was dazu führt, dass der persönliche Erfolgsdruck steigt.

Paradoxerweise führt dieser soziale Druck aber auch zu einem verstärkten Bedürfnis nach einem „Wir-Gefühl“ und der Suche nach Identifikation. Gleichgesinnte außerhalb der Familie werden wichtiger, dabei rücken Nationalität und Sprache in den Hintergrund und gemeinsame Werte in den Vordergrund. Das trifft übrigens auch immer mehr auf Marken zu. Eine starke Haltung ermöglicht Menschen sich mit den Werten einer Marke zu identifizieren, anstatt nur mit den Produkten. 

Überhaupt: Jeder von uns wird in den sozialen Netzwerken zur eigenen Marke und produziert Content. Und die Likes (und damit verbundene Aufmerksamkeit) sind das Statussymbol unserer Zeit. Aufmerksamkeit ist zur Parallelwährung geworden. Zwischen beiden Währungen finden Tauschprozesse statt. Werbung und Marketing ist nichts anderes als der Versuch, mit Geld Aufmerksamkeit zu kaufen, in der Hoffnung, dass diese sich wieder monetarisiert und mehr ist als vorher. Und dabei entsteht unendlich viel Content. 

Relevanter Content ist nicht mehr ausschließlich im TV erhältlich, sondern ist uneingeschränkt auf allen Kanälen, überall und zu jeder Zeit verfügbar.Die Digital Giants transformieren zu Medien- und Entertainmentunternehmen. Amazon und Netflix überfluten uns mit einer Content-Lawine. Über 10 Mrd. Euro geben diese jedes Jahr für Premium-Content aus. Und Bei Amazon ist das nur ein Kundenbindungsprogramm. Aber nicht nur Content ist im Überfluss, auch Werbung. Was einst der wohldosierte Preis für frei verfügbaren Content war, hat inflationäre Ausmaße angenommen. Bis zu 13.000 Werbebotschaften prasseln pro Tag auf uns ein (in den 80er Jahren  waren es noch 500). Die Menge ist größer als die Kapazität, sie aufzunehmen zu können. Instagram unYouTube haben eine ganze Armada an Werbesoldaten hervorgebracht. Diese Influencer teilen Content im Sekundentakt gespickt mit Placements. Jeder ist seine eigene Werbeagentur. 

Nicht ohne Folgen:Mit falschen Wahrheiten (irres Wort) erreicht man den Konsumenten immer weniger. Man möchte gute Geschichten, die authentisch sind, von Marken, die sie auch erzählen können. Man sehnt sich nach Transparenz und Ehrlichkeit. Das erklärt den Trend zu Macro- und Micro-Influencern und authentischen Testimonials. 

Wir haben uns eine On-Demand-Kultur erschaffen, die auf unsere persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Scheinbar alles, was das Herz begehrt, ist nur ein Click entfernt und fast in Echtzeit zu Hause. Ob als Zuschauer, Abonnent oder Käufer, der Konsument ist der Protagonist der Stunde. Seine Aufmerksamkeit ist das heiß begehrte Ziel.Für das Marketing bedeutet diese Individualgesellschaft eine Welt voller Unikate, erschaffen für die Zielgruppengröße. Der Vorteil ist, dass bei soviel „Ich“ der Preis an Bedeutungverliert. 

Zugegeben: Früher war alles einfacher. Wir, die Marketingleute, haben die Konsumenten behandelt wie dressierte Hunde: Sitz, Platz, Kauf (Einbahnstraßenkommunikation) hat bestens funktioniert. 

Heute verhält sich der Kunde eher wie eine Katze. Sie möchte sich auch noch mit uns beschäftigen, aber eben wann sie will. Der Konsument ist mündig geworden. Alles ist auf Dialog ausgerichtet. Und für das alles haben wir immer weniger Zeit: Mittlerweile ist die Aufmerksamkeitsspanne des Menschen niedriger als bei einem Goldfisch. Was auch die Bumper Ads auf YouTube erklärt. Unendlich viele Probleme? Nein: Unendlich viele Möglichkeiten.

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Tom Schwarz

Tom Schwarz ist seit 1. Juni 2016 Geschäftsführer bei der SevenOne AdFactory, dem Kreativvermarkter der ProSiebenSat.1 Media SE. Anfang 2022 gründete er die Full-Service-Kreativagentur Creative House, als Unit der SevenOne AdFactory, die Kundenbedürfnisse in Tailormade-360°-Kampagnen übersetzt. Zuvor verantwortete der Diplom-Designer knapp fünf Jahre lang die …

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